Aachen. Mit der andauernd hohen Medienpräsenz des Themas „sexueller Missbrauch“ wurde ein Bann gebrochen. Immer mehr betroffene Menschen melden sich mit ihrem Schicksal öffentlich zu Wort und machen vielen anderen damit Mut gleiches zu tun.
Die hohe Aufmerksamkeit, die der Thematik geschenkt wird, ist für manche das Signal, dass ihnen endlich geglaubt wird, andere wiederum fühlen sich überrollt: Das oft Verdrängte ist plötzlich wieder allgegenwärtig.
Viele Betroffene suchen daher derzeit nach einem geeigneten Ansprechpartner, dem sie ihr Schicksal anvertrauen können und der ihnen Hilfe aufzeigt.
Erste Adresse auf der Suche nach Hilfe ist oft der Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen e.V. in Aachen.
In der Beratungsstelle finden betroffene Frauen und Mädchen sowie ihre Angehörigen professionelle Beratung, Begleitung und Unterstützung.
Seit dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle hinter Klostermauern und Kirchentüren, in Vorzeigeschulen und Elite-Internaten steigt der Beratungsbedarf für Opfer von sexueller Gewalt rasant an.
Von Januar bis März 2010 wurden in der Beratungsstelle des Aachener Frauennotrufs bereits 152 beratene Personen erfasst. Das sind annähernd so viele Hilfesuchende, die 2009 erst Ende Juni zu verzeichnen war. „Der Ansturm ist nicht leicht zu kompensieren“, meint die Sozialarbeiterin Monika Bulin, die bereits seit mehr als 20 Jahren im Frauennotruf tätig ist. „Es bricht zurzeit regelrecht eine Welle über uns hinein.“
Das der Druck und die Belastung auf den Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen e.V. so dramatisch steigt, liegt auch daran, dass es keine konkreten Initiativen speziell für betroffene Männer gibt in Aachen. So wenden sich gerade in den letzten Monaten viele Männer in ihrer Verzweiflung an den Frauennotruf. „Die innere Not muss schon sehr groß sein, wenn Männer sich schon an uns wenden. Es gibt in Aachen gar keine Versorgung für diese Zielgruppe“, bemängelt Dipl. Pädagogin Agnes Zilligen vom Notruf-Team.
„Einige Männer haben ihr belastendes Ereignis ein ganzes Leben lang mit sich herumgetragen – und zwar nur mit sich. Mittlerweile kann man keine Zeitung mehr aufschlagen, ohne um das Thema des sexuellen Missbrauchs drum rum zu kommen. Viele Betroffene haben jetzt verstärkt das Gefühl, den Deckel einmal aufzumachen und auszusprechen, was ihnen passiert ist“, sagt Monika Bulin.
Dass sich die Initiative, die sich in erster Linie an genötigte, belästigte oder vergewaltigte Frauen und Mädchen wendet, diesen zusätzlichen Zulauf nicht auch noch kompensieren kann, liegt auf der Hand. Dennoch werden hilfesuchende Männer hier nicht abgewiesen. „Wir haben uns recht früh mit dieser neuen Situation auseinander gesetzt und haben ein Infopaket zusammengestellt. Hier finden Betroffene hilfreiche Internet- und Kontaktadressen, wie beispielsweise zu Traumata-Therapeuten“, erklärt Monika Bulin. „Wir können hier zwar nicht beraten, aber wir bemühen uns den betroffenen Männern, weitere Unterstützung aufzuzeigen.“
Das Hauptproblem des Notrufs für vergewaltigte Frauen und Mädchen e.V. ist aber nicht die verstärkte Nachfrage nach Beratung, sondern vielmehr die Finanzierung und der Erhalt der Beratungsstelle. „Es besteht wirklich dringender Handlungsbedarf, aber ohne zusätzliche Finanzierung ist das nicht möglich, weder in der StädteRegion noch landes- oder bundesweit“, fasst Agnes Zilligen zusammen. „Wir brauchen mindestens eine halbe Stelle zusätzlich, um den Arbeitsaufwand bewältigen zu können“, so Zilligen weiter.
2009 hat der Verein zur Sicherung der Beratungsstelle rund 41.000 Euro an Eigenmitteln durch Spenden und Mitgliedschaftsbeiträge aufbringen können. Für 2010 benötigt der Verein mindestens 45.000 Euro zusätzlich zur öffentlichen Förderung. Die großzügige Spende der Sparkasse Aachen von 2.300€ ist dabei ein erster Anfang.
Die aktuelle Situation birgt die große Chance, das nach wie vor wirkende Tabu, mit dem sexualisierte Gewalt in unserem Alltag immer noch belegt ist, weiter zu entkräften. Es scheint aber auch eine grundsätzlich neue Auswirkung der öffentlich geführten Debatte und Aufdeckungen zu geben: je mehr Opfer es auch öffentlich erkennbar gibt, desto eher können sich Betroffene anvertrauen und nach Unterstützung fragen. Dies bezieht sich zum Teil auf lange zurückliegende Ereignisse, aber genauso auf ganz aktuelle Übergriffe und Straftaten, auf Mädchen, auf junge wie ältere Frauen. „Wir befinden uns an einem Wendepunkt für unsere ganze Gesellschaft. Ab sofort muss bewiesen werden, dass es ernst gemeint ist, mit den Versprechen von Politik und der Institutionen“, fordert Agnes Zilligen vom Frauennotruf.
Veröffentlicht: Aachener Zeitung